Auch im Jahr 2022 ergibt sich ein nicht ungewöhnliches und doch aufsehenerregendes Phänomen. Pessach Erev, der Vorabend des ersten Pessach-Tages, fällt mit dem Karfreitag in der christlichen Osterzeit zusammen. Pessach beginnt mit dem ersten Frühjahrsvollmond jeden Jahres. Der Frühlingsanfang im jüdischen Kalender richtet sich nach der Tagundnachtgleiche und liegt damit zwischen dem 19. und 21. April. Es wird angenommen, dass auf dem Konzil von Nicäa im Jahr 325 n. Chr. Beschlossen worden ist, dass das christliche Osterfest auf einen Sonntag nach Pessach fallen soll.
Wenn dem so war, intendiert dies die bewusste Abgrenzung des Christentums vom Judentum. Denn zur frühchristlichen Zeit fanden das jüdische Pessachfest und christliche Paschafest zur selben Zeit statt. 325 n. Chr. wurde diese zeitliche Verknüpfung des christlichen Osterfests zum jüdischen Pessach bewusst aufgelöst. Die beiden Hochfeste blieben unabhängig davon miteinander verbunden. Nicht zuletzt wegen der Geschichte von Jesus Christus, der selbst Jude war und dessen Tod im Zentrum des Osterfestes steht.
Jeschua, heute besser bekannt als Jesus von Nazareth, strebte eine Reformierung des Judentums an und war dabei überaus erfolgreich. Nach seiner Ermordung durch die Römer, wuchs die Zahl seiener Anhänger weiter – insbesondere durch zahlreiche Heiden, die gegen jüdische Regeln durch die Anhänger von Jesus missioniert wurden. Aus dieser Gemeinschaft erwuchs das Christentum. Große Anziehungskraft entfaltete dabei vor allem die Leidens- und Erlösungsgeschichte, die im Osterfest ihren Zenit hat. Der Teil von Jesus Weg, dem zwischen Aschermittwoch und Ostern gedacht wird, ist Ausdruck seiner reformierten jüdischen Praxis. Er pilgerte 40 Tage durch die Wüste, wobei er fastete, um anschließend in Jerusalem Pessach zu feiern.
Jüdinnen und Juden gedenken zu Pessach dem Auszug des Volkes Israels aus Ägypten, nachdem es dort in Sklaverei leben musste. Nach dem Sonnenuntergang am Pessach Erev und dem Abendgottesdienst in der Synagoge findet der Seder statt. Dabei ließt traditionell der Sederleiter die Haggada vor und erläutert die Verbindung von Bräuchen und Erinnerung. So werden etwa symbolische Speisen verzehrt, die mit der Geschichte des Auszugs in Verbindung stehen. Die berühmte Matze ist Brot, das ungesäuert ist, weil auf der Flucht keine Zeit dafür war. An vier Stellen wird je ein Becher Wein getrunken, mit denen an die Verheißungen Gottes erinnert wird.
Es liegt nahe, dass das letzte Abendmahl Jesus Christi auf seine Teilnahme am Seder zurückgeht. Seine Auferstehung am Ostersonntag ist hingegen ein Scheidepunkt der beiden Religionen. Im Thema der Befreiung vom Leid scheint nur auf den ersten Blick eine weitere Gemeinsamkeit von Ostern und Pessach zu liegen. Tatsächlich ist die Ostergeschichte selbst eine christliche Reaktion auf das Judentum, die der Abgrenzung diente. In die christliche Liturgie hat sich mit dem Verrat an Jesus Christus in die Karwoche vor Ostern eine zutiefst antijüdische Erzählung eingeschrieben. Und die Haggada ist im säkularen Sinne auch kein Dokument aus der Zeit vor Christus, sondern das Ergebnis einer Jahrtausende währenden Entwicklung der jüdischen Religion. Diese Entwicklung war seit der Entstehung des Christentums immer auch durch die Auseinandersetzung mit diesem geprägt. Auch die Haggada ist dadurch ein Dokument der Abgrenzung geworden. Dieselben Motive werden in der jeweiligen Religionen unterschiedlich ausgelegt.
Diese Deutungskämpfe lassen sich aus den Motiven ablesen, die wir heute noch sowohl mit Ostern und Pessach verbinden können. Das Motiv des Lamms findet sich zu beiden Festen. Als Gott die Befreiung der Israelit*innen aus Ägypten ermöglichte, schickte er zehn Plagen auf die Erde. Die letzte tötete alle Erstgeborenen. Das jüdische Volk habe sich vor dieser Plage geschützt, indem es mit dem Blut toter Lämmer ihre Türen markierte, damit Gott ihre Schwellen nicht überschritt. Pessach bedeutet wörtlich so etwas wie „abprallen“ oder „zurückstoßen“ und meint, dass der Tod die Schwellen der markierten Häuser nicht überschritten habe.
Auch die Christen kennen das Osterlamm. Es erinnerte in seiner frühesten Form an die Pessachopfer. Auf der Verbindung der Opferung des Lamms zu Pessach mit der Hinrichtung Jesus Christus in der Pessachwoche gründet sich das Motiv des Agnus Dei (Lamm Gottes). Dieses Motiv wurde insbesondere im Neuen Testament hervorgehoben und darin die Identität des Lamms mit Jesus betont. Das weiße Fell und dessen Reinheit symbolisiert Jesus Unschuld und machen den Mord moralisch umso verwerflicher. Die Karwoche ist über Jahrhunderte hinweg eine Zeit von vermerhrten antijüdischen Ausschreitungen gewesen.
Gerade weil Jesus Christus nicht als Jude anerkannt wird, ist die Ostergeschichte bis heute Quell traditionellen Antijudaismus. Christ*innen erhoben den Anspruch, die Welt in Jesus Christus Sinne zu befreien. Sie kämpften für das Bild, das sie von Jesus als Messias im Glauben an ihn als Sohn Gottes hatten, gegen Anders- und Ungläubige. Zwar hatte sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert die Haltung der Christen gegenüber den Juden deutlich reformiert. Doch noch 2013 hat Papst Benedikt eine Neufassung der Karfreitags-Fürbitte vorgelegt, in der der alte Tenor wieder anklang, dass die Juden schließlich den christlichen Gott anerkennen werden würden.
Die tiefgreifende Verbindung zwischen Judentum und Christentum und die aus ihr erwachsenen Spannungen prägen bis heute die Beziehungen der beiden Weltreligionen. Wichtiger als das Wissen um Verbindung und Unterschiede der Liturgien ist daher die Einsicht, dass Religion immer nur eine Auslegung des Textes ist. Verschiedene Religionen haben deswegen auch verschiedene Auslegungen derselben Motive. Den einen Jeschua oder Jesus gibt es also nicht. Es ist eine Frage der Perspektive. Die Frage nach der Identität Jesus ist also eine Frage nach unserem eigenen Standpunkt.
Mit diesem Denkanstoß wünschen wir:
Frohe Ostern! | Chag Pesach Sameach! | Ramadan Mubarak!