Gedanken zur Währungsunion im Mai 1990
Am zehnten Mai treffen sich zwei Männer mittleren Alters in Berlin. Der Eine, Sohn eines Sparkassenangestellten und selbst Mathematiker, hat Sorgen: die Schulden seines Landes sind nicht mehr zu beziffern. Er weiß nicht (oder sagt nicht) wie sich die aktuelle Lage in einfachen Zahlen ausdrückt. Trotzdem soll er verhandeln – mit dem Anderen. Der Andere hat prominente Augenbrauen, sein Vater ist Maurer. Auch er orientiert sich gerade neu. Vor Kurzem die Kehrtwende seines Chefs: jetzt doch zusammen, zügig, ein Staatsvertrag wird gebraucht, doch die Experten warnen.
Es treffen sich Walter Romberg, letzter Finanzminister der DDR, und Theo Waigel, Langzeitfinanzminister unter Kohl. Sie sitzen natürlich nicht alleine am Tisch, aber in den historischen Darstellungen der Zeit sind sie meist die Hauptdarsteller.
Im Mai 1990 unterschreiben sie den Staatsvertrag zur Währungs- und Wirtschaftsunion. Das Tempo der Umgestaltung ist unglaublich schnell: nur drei Monate nach Helmuth Kohls Kehrtwende steht der Vertrag. Es ist das bestimmende Thema im Mai vor dreißig Jahren. Es gibt Massendemonstrationen wie in Leipzig am zehnten Mai, Expertenrunden (damals nur Männer, im Bereich Finanzen sowieso), Wechselkursdebatten und einem Wirbelsturm an Prognosen. Zu oberst geht es um Zahlen, darunter um andere Wertigkeiten.
Was wird wogegen (aus-)getauscht, wenn die D-Mark kommt?
Die Rufe auf den Demonstrationen beantworten diese Frage manchmal schon mit. In Sachsen wird vielstimmig mitgeteilt: „Gommt die D-Mark, bleib‘m mir hier, gommt se nich, gehen mir zu ihr.“ Pragmatische Wirtschaftsmigration, oder zumindest ihre Androhung.
Es wird auch skandiert: „Eins zu eins oder wir werden niemals eins“. Viele fordern den Wechselkurs 1:1 und damit die Aufrechterhaltung der privaten Ersparnisse, mit der aber auch die schlagartige Neubewertung von betrieblichen Sachwerten und Ausständen nach Westwährung einhergeht. Banker auf beiden Seiten sprechen vom ökonomischen Selbstmord.
Die Straße ist sich nicht so einig. Viele Menschen haben Angst vor Richtung und Tempo des Wandels. Am zehnten Mai demonstrieren in der ganzen DDR Kindergärtnerinnen, Lehrerinnen und Lehrer, Angestellte aus der Lederproduktion, der Bekleidungsindustrie und Textilwirtschaft. Ihre Forderungen sind aus heutiger Sicht altbekannt: sie fordern den Erhalt ihrer Arbeitsplätze und gegen den Abbau von Sozialleistungen. Acht Tage später beginnt die Verbraucherzentrale in Sachsen mit ihrer Arbeit. Im Juli kommen die Lkws mit den Münzen der D-Mark angefahren. Die Nachwendezeit beginnt.
Wie so oft löst ein Verweilen bei einem historischen Datum viele Fragen aus, zum Beispiel:
Was hat der letztendliche Wechselkurs von 1:1 (es gab aber auch 2:1 und 3:1) mit der gefühlten Einheit gemacht? Kam sie langsamer oder schneller? Geht es bei der Wiedervereinigung um Tempo oder Qualität? Wem ging es um Tempo und warum? Wem um Qualität und warum? Wie ist es den Kindergärtnerinnen und Textilfrauen in den folgenden Jahren ergangen? Wie den DDR-Vertragsarbeitenden? Wie den Zusammenhang zwischen den gebrochenen Knochen und ausgelöschten Leben nicht-weißer Menschen seit der Wende und den Demonstrationen zur Wirtschaftsunion formulieren? Beides findet auf sächsischen Straßen statt. Und sonst?
Es kommt auch der Gedanke auf, dass viele Jüngere wenig über die vielen Demonstrationen in der späten DDR wissen, abgesehen von den drei immer gleichen Fernsehbildern. Wer unter dreißig weiß von der Demo der VoPos für einen demokratischen Wandel und wann sie war?
Und heute?
Hat sich unser Umgang mit Wirtschaftspolitik gewandelt seit 1990? Wann war man zuletzt in Deutschland auf einer finanzpolitischen Demonstration? Gibt es heute mehr Experten als früher? Mehr Expertinnen sicherlich. Im Mai 2020 kommt auch der Gedanke: In Zeiten von Corona ist es besser, wenn es keine Massendemonstrationen gibt. Das ist gut für die Gesundheit unserer Körper – die politische Gesundheit erholt sich hoffentlich schnell von dieser Zwangspause.